"Segelboot, Segelboot, Segelboot"
Liner notes von Heiner Goebbels für das "Das Moabiter Duo"
Vielleicht hab ich an diesem Abend in der Frankfurter Batschkapp etwas über Imagination verstanden, und über den vergnüglichen und kreativen Raum, der sich auftut, wenn Hören und Sehen nicht zusammengehen. Mitten im Konzert tauschte Sven-Åke die Cymbals auf den Ständern, die rechts und links vor der Bassdrum standen, mit professioneller Geste gegen große ‚Becken‘ aus dickem Schaumstoff aus und spielte auf ihnen weiter. Wir lachten – aber hörten nichts. Oder vermutlich umso mehr. Jeder etwas anderes. Das war erhellend – wie sonst wäre mir die Szene noch nach 35 Jahren so präsent in Erinnerung. Starke künstlerische Erfahrungen können ruckweise das Leben verändern. Das war so ein kleiner Ruck und nur eine von vielen Szenen aus einem Konzert, das Sven-Åke zusammen mit Thomas Kapielski im Rahmen der Materialausgabe gab, eine experimentelle Veranstaltungsreihe, die Christoph Anders und ich in den 80er Jahren ca. einmal alle 6 Wochen veranstalteten. Und dem Untertitel –eineVeranstaltungsreihe mitmusikalischem Risiko – entsprachen beide Musiker vortrefflich.
Es waren oft kleine, aber nichtsdestoweniger berührende Erfahrungen mit den Objekten, den Dingen und den Materialien, die plötzlich selbst ins Licht gerückt wurden. Wenn unsere Aufmerksamkeit sich zum Beispiel nicht mehr nur auf den Rhythmus richtete, mit dem Sven-Åke auf zwei Telefonbüchern herumtrommelt, sondern darauf, wie sich der Klang ändert, weil die Anzahl der Seiten zu- oder abnimmt, während er sie umblättert. Oder was zum Beispiel hörbar wird, wenn Kapielski sich mit dem Mikrofon einem Ventilator oder einem Handmixer nähert oder einer Blechdose, in der irgendwas auf einem Campingkocher vor sich hin brodelt.
Ich weiß nicht mehr, ob ich damals Thomas Kapielski schon kannte oder seine abstrusen und überraschenden elektronischen Erfindungen erst an diesem Abend entdeckt habe und zu schätzen begann. Jedenfalls war er ein gern gesehener Gast auch bei weiteren Materialausgaben und hatte später bei der großen (und vermutlich letzten) Ausgabe auf dem New Jazz Festival Moers 1985 einen denkwürdigen Auftritt. Für alle Musiker, die ich zu diesem Konzert eingeladen hatte, war die Bedingung, jeweils nur für eine Minute auf die Bühne zu kommen. Thomas Kapielski, ein feiner Mensch, hat sich daran gehalten und exakt in einer Minute geräuschvoll einen veritablen Kleiderschrank erlegt. Mir war damals der Begriff Performance noch nicht geläufig, das jedenfalls war eine.
Sven-Åke dagegen kannte ich als Drummer seit langem – aus vielen Konzerten mit Alexander Schlippenbach und dem Globe Unity Orchestra in den 70er Jahren. Am eindrücklichsten war für mich ein denkwürdiges Solo auf einer LP, die mir Alfred Harth 1974 schenkte. Alfred und ich spielten vor der Gründung unseres Duos damals zusammen in einer Frankfurter Band; als E.M.T. hatten er, Nicole van den Plas und Sven-Åke für FMP das Album Canadian Cup of Coffee aufgenommen. Sven-Åke spielt darauf mit dem Akkordeon ein tragi-komisches Intermezzo und ruft singt erfindet eines seiner hin- und mitreißenden Spontangedichte: „Auf der See, auf der See, auf der See, auf der, auf der See /war ich einmal,/ als die Stürme ankam’n. /Da habe ich Angst gekriegt ./Da war jemand mit ein‘m Segelboot, Segelboot, Segelboot, /der auf mich zusteuerte / und rettete mich ans Land, ans Land, ans, ans Land, ans Land, ans Land, ans Land.“
Jetzt, mehr als vierzig Jahre später, bei der Wiederbegegnung damit, wird mir klar: ich muss es damals ganz begeistert hunderte Male gehört haben. Jede Nuance, jedes Register ist mir total vertraut wie immer noch überraschend. Die Intensität, der ganz eigensinnige Umgang mit der deutschen Sprache, das ganz eigene Gefühl für Timing waren es auch, die mich bewogen haben ihn 1990 als Performer für Newtons Casino auf die Bühne einzuladen (ein Musiktheaterstück, das ich zusammen mit Michael Simon am Frankfurter TAT inszenierte) und später als Sprecher ins Tonstudio des Hessischen Rundfunks für das Hörstück Schliemanns Radio.
Newtons Casino war sehr erfolgreich und wurde viele Male gespielt. Doch für Sven-Åke muss die Wiederholbarkeit eine große Herausforderung gewesen sein. Schon im Probenprozess hat er jeden unserer Regieeinfälle („mach doch mal was mit der Kordel“) performativ umgangen und damit – zurecht – als Zumutung gegeißelt. Jedes theatrale „so zu tun als ob“ war ihm zuwider. Letztlich hat das sogar dazu geführt hat, dass wir alle Texte für ihn kurzer Hand, nämlich direkt vor der Generalprobe, gestrichen haben, und er damit seine Stärke als musikalischer Performer beweisen konnte. Für mich war das meine erste Regiearbeit und mit seiner radikalen Insistenz aufs Performative eine willkommene Lektion: schon der Versuch aus Musikern Schauspieler zu machen ist strafbar.
H.G. 2019
Puls plus Puls
Liner notes von Diedrich Diederichsen
Man kann Beats so schlagen, dass sie eine Intention verraten – durch einen Akzent, eine Betonung. Und man kann sie so schlagen, dass sie maschinell wirken, intentionslos, als reiner Puls wie in manch minimalistischer Musik. Beide Möglichkeiten bevölkern verschiedene Genres. Es gibt aber auch ein Drittes und um das ist es Sven Åke Johannson immer mal wieder gegangen: So schlagen, dass es einen Akzent oder mehrere, jedenfalls Intentionsspuren gibt, aber dies dann wiederum durch Wiederholungen und Regelmäßigkeiten so rahmen, dass die Intention als solche verblasst und als regelmäßiger, eingeplanter Teil eines dann wieder quasi-mechanischen Ablaufs erscheint. Etwas in dieser Richtung findet man schon auf dem in der Hochzeit einer allgemeinen Liebe zum freien Ausdruck entstandenen Solo-Album „Schlingerland“ (1972). Beim Schlingern wie auch beim Versinken im Moor oder im Treibsand hören die intendierten, zielgerichteten Bewegungen der humanen Akteure nicht auf, aber sie haben keinen Erfolg und keinen Sinn. Sie erweisen sich als Automatismus. Ein höheres Bewegungsgesetz stellt andere physikalische Rahmenbedingungen, unter denen das Strampeln nicht hilft. Johannson schlägt Beats in eine Richtung und tut gewissermaßen so, als würde er nicht wissen, dass sie im Verlaufe des Stückes eine Rahmung, Deutung erfahren, der ihrer vitalen Rolle, ihrer Lebendigkeit, absichtsvollen, menschlichen Natur widerspricht – oder sie doch in Anführungszeichen setzt.
Hier sind zwei Projekte mit einander verbunden, eine weitere Solo-Platte und ein Duett von Johannson und Jan Jelinek, in beiden Fällen geht es um die Anthropologie des Schlagwerkens und in beiden Fällen steht im Raum, ob die Annäherung an die Maschine ein Ziel oder eine Falle darstellt – zumal ja in der Geschichte der Rhythmusmaschinen diese ja ursprünglich in dem Bemühen entwickelt wurden, das Menschliche zu imitieren. Ob Mimesis der Drummer an die Maschinen oder der Maschinen an die Schlagzeuger ist heute keine kulturkritische oder entfremdungstheoretische Frage mehr: Die rhythmisierte Montage am Fließband prägt nur noch einen geringen Teil der Arbeitswelt. Eher geht es um die animistische Kernfrage: steckt das Subjekt (Drummer) im Beat oder verliert es sich an den Beat? Oder folgt es einer Versuchsanordnung, die wie eine Komposition oder eine konzeptualistische Versuchsanordnung funktioniert, die beides zulässt, erwägt.
Nun ist es sinnvoll, dass Jan Jelinek den zweiten Part dieser Forschungen übernimmt. Seit mindestens zwei Jahrzehnten arbeitet dieser an der Spannung zwischen maschinell generierter Wiederholung (Loops) und der Differenz, die, wie wir entweder von Gilles Deleuze oder vom Tanzengehen wissen von jeder externen Wiederholung in unserem Inneren hervorgebracht wird, indem sie markiert wird: wo etwas gleich bleibt, wir alles drum herum, wenn auch oft nur minimal, anders. Diesem – oft nur mikroskopisch kleinen – Anderswerden von allem anderen gibt er Raum neben, über und gegen den Loops, die er verwendet. Deswegen stimmt es auch nicht ganz, wenn man sagt, er macht hier die Maschine zu Johannsons Menschlichkeit: Die Spannung des Projekts besteht darin, dass es nicht nur nicht mit öden Dichotomien spielt (Mensch/Maschine), sondern diese auch nicht einfach dialektisch auflöst (Maschine ist eigentlich Mensch, Mensch eigentlich maschinell), vielmehr überschreitet es dieses Problem hin zu der anderen Frage, der Frage nach der Anwesenheit.
Anwesenheit mehrfach. Schläge in der Zeit, zählbare Schläge sind das Urmaterial jeder symbolischen Ordnung: fort/da. Anwesenheit/Abwesenheit. Es gibt Stellen, in denen das Spiel Johannsons sich in „Pulspulspuls“ von seinem Solo gar nicht so sehr unterscheidet, doch die Frage nach der Anwesenheit im Spiel beantwortet sich ganz anders. Hat man im Solo den Eindruck, er spiele sich aus dem Spielen heraus, hat man beim Duett das Gefühl, er sei massiv anwesend. Nicht aber im Kontrast zu den elektronischen Klängen und Beats, sondern weil diese ihrerseits so massiv belebt wirken. Was diesen Eindruck bei beiden Beiträgen so stark werden lässt, ist nur die Differenz zwischen beiden – nicht die Differenz in Bezug auf eine bestimmte Eigenschaft der Klangerzeugung oder der beteiligten Personen. Trommeln dienen gerne dem rituellen Verlust des Selbst, sie scheinen Wege des Verschwindens zu kennen. Aber wenn sie im Unterschied zu etwas existieren, werden sie von Subjekten okkupiert. Hier schlingert nichts mehr, selbst wenn es dies objektiv täte, überall sind tätige Entscheidungen treffende Subjektivität. Wie sagt man? Das geht ab.
Aber die Nähe des Abgehenden, ein Publikum aufpeitschenden Drummings und Programmings zu dem des Selbstverlusts, des Aufgehens in einer archaischen Grammatik des Fort und Da hat noch eine andere als nur die soziale Seite (erkennbare Anwesenheit zweier unterschiedlicher Grammatiken bringt den Eindruck von zwei lebendigen Menschen hervor, nur die können qualifiziert verschieden sein). Diese andere Seite ist die taktile. Wenn das Gefühl des Selbstverlust, der Trance-Eindruck den Hörer von engagierten in kontemplativen Modus umschalten lässt, geht es sehr bald nicht mehr um die Zeitwerte des Schlagens und ihre Genauigkeit, sondern es geht um die Materialität des Geschlagenen, mithin um das, was zur Resonanz gebracht wird. Die Frage lautet nun nicht mehr: Höre ich das Drummer-Subjekt im Schlag oder dessen Verlust in der Genauigkeit? Sie lautet nun: Höre ich den berührenden Stock oder das berührte Becken.
Nach dem Selbstverlust, nach dem Aufgehen in der Versuchsanordnung (oder dem Schlingern), kommt also der Gewinn der Berührung. Das heißt, dass sich auf die Mikroebene verlagert, was wir im Duett auf der Makroebene hatten: Belebung entsteht durch Duett, durch die erkennbare Unterschiedenheit zwischen zwei Klangerzeugungen oder durch die erkennbare Unterschiedenheit der aktiven und passiven Seite des Schlagens und Berührens. Indem diese zwei Tonträger gemeinsam veröffentlicht werden wird die Gemeinsamkeit zweier Differenzen als Differenz betont. Es sind zwei großartige Platten, man kann sie jede für sich hören und die Erfahrungen machen, von denen hier die Rede war. Oder ganz andere. Aber man kann ihren Zusammenhang erschließen und dann auf beiden Grundsätzliches finden, das hier en passant mit dem Drumstick gestreift wird.
D. Diederichsen, 2018
Grundsätzlich Musik
Ein Text von Peter Ablinger
Es gibt eine kleine Schallplatte, eine Single, 45 Umdrehungen pro Minute, darauf ist Sven Åke Johanssons Melodie in F (nach Anton Rubinstein), gespielt vom Nordeuropäischen Melodie- und Improvisationsorchester, eine Aufnahme aus dem Jahre 1979. In Johanssons Bearbeitung des Originals erkenne ich dreierlei Handgriffe: eine kleine Synkopierung, die endlosen Wiederholungen des Themas, und die Tatsache, dass man am Ende der Prozedur eine Schallplatte in Händen hält, bzw. zusieht, wie sie sich auf dem Plattenteller dreht.
Die Synkope verhält sich zu dem Thema von Anton Rubinstein wie der Schnurrbart zur Mona Lisa. Synkope wie Schnurrbart verwandeln ihren Gegenstand unwiederbringlich in ein Objekt. Eine kleine Veränderung, eine feine, musikgeschichtliche Ironie – und die ursprüngliche künstlerische Intention verkehrt sich schlichtweg in ein „Ready-Made“.
Die Wiederholungen des Themas könnten seine Dingwerdung noch unterstreichen – wären da nicht die energetische Spielweise und Artikulation eines Freejazz-Orchesters, der treibende Beat von Johanssons Schlagzeug-Spiel, und schliesslich der obligate Improvisations-Mittelteil, welche das Spielen, die Lust am Spielen über die dadaistische Verneinung zu stellen verlangt.
Aber am Ende der Geschichte steht, wie gesagt, die Schallplatte, deren Rotationen in ein merkwürdiges, nachdenklich stimmendes Verhältnis zu den Wiederholungen des Rubinstein-Themas, als auch der vielfach gehörten Improvisationsgesten geraten: der Verdacht, dass die Ähnlichkeiten mit einem Sprung in der Schallplatte bereits vorweg intendiert gewesen sein könnte, lässt mich - wie so oft bei Johansson - leicht verwirrt zurück.
Johansson wurde oft als Dadaist bezeichnet. Aber das reicht nicht aus. Gegen Dada spricht nicht nur der Free-Jazz, zu dem es in seinen Kompositionen der letzten Zeit kaum noch Verbindungen gibt, sondern allgemeiner das Element Aufführung. Der Mittelbarkeit, welche Kunst in Antikunst verwandelt, steht die Unmittelbarkeit der Aufführung gegenüber, die auch schon mal den Gegenzauber bewirkt, und ein Objekt wieder zurück in reine Klanglichkeit verwandelt. Wenn es überhaupt einen bereits existenten kunstgeschichtlichen Ausdruck gibt, der sein Schaffen etwas flächendeckender widerspiegelt, dann ist es der der Arte Povera, welcher allerdings eigens in Musica Povera, abgewandelt werden müsste: Eine arme Musik, die aus den gewohnten Dingen ungewohnte Hörformen entstehen zu lassen vermag. Arme Musik, das könnte im Fall von Sven-Åke Johansson heissen: einfacheMaterialien benutzen, das Nächstliegende tun, es selber tun, und die Musik von sichselber wegnehmen.
Alles wirkt wie zum ersten Mal, ganz egal ob ein Telefonbuch oder eine Violine gespielt, oder ein Traktor angelassen wird. Tatsächlich mutiert bei ihm eine Violine wieder zu einem armen Instrument: Eine Violine ist ein Stück Holz, auf das ein Draht gespannt ist. Schlagen, Streichen, Blasen, Hupen, Starten, oder den Motor Ausstellen, werden zu Primärvorgängen, die als solche bereits den Zweck der Musik auszumachen scheinen. Tatsächlich ist es aber erst die Vorführung, die aus dem Hupen, dem Motor An- und Ausschalten das Konzert macht. Und das Konzert macht aus der ärmsten Musik eine hinterlistig folgenreiche Angelegenheit.
Schon sein Komponieren ist eine List. Sven-Åke Johansson war die längste Zeit seines Wirkens Interpret seiner eigenen Werke. Ein Performer – so heisst das. Es selber tun bedeutet, möglichst wenig Distanz zwischen sich und den Dingen aufkommenzu lassen. Wenn aber das Notenschreiben bei ihm in den letzten10 Jahren einen grösseren Platz eingenommen hat, mag das scheinen, als hätte er den Beruf gewechselt. Das scheint nur. Denn tatsächlich ist nun das Notenschreiben die Performance. Johansson interpretiert weiterhin sich selbst: nämlich sich selbst als Komponist!
Dass alles nicht so ist, wie es scheint, bemerken wir bereits. Musik ist nicht Musik. Sven-Åke Johansson ist Komponist, Schlagzeuger, Interpret, Performer, Zeichner, Dichter, Objektkünstler. Das klingt nach viel. Es ist aber das Gegenteil. Seine Interpretationsarbeit geht zwar, wenn er textet, zeichnet oder skulpturale Installationen entwirft, über den Rand von Musik hinaus. Ob er mit einem ungespitzten Bleistiftstummel ein paar Noten, oder einen Traktor aufs Papier zeichnet, - der Grund für Exkurse in andere Kunstsparten aber ist nicht die angestrebte Vielfalt, sondern eine elementare Unruhe, aus der heraus Johansson den ständigen Perspektivenwechsel auf die eigene Arbeit unternimmt. Das ist wie eine Drehung des Kopfes, das den-Blick-Abwenden von der vorgegebenen Fokussierung, der Sichtweise auf das, was Musik ist, auf das, was Musik nicht ist.
Einfach ist das alles überhaupt nicht.
Die Einfachheit des Materials findet sich am Objekt, in der Behandlung des Objekts, und schliesslich darin, wie die Behandlung des Objekts anderen mitgeteilt wird. Das ist eine vertrackte Formel, die eine mehrfache Anwendung erlaubt, insofern bei Johansson jeder Begriff sein eigenes Spiel spielt. Schon die Frage, was das Objekt ist, verwandelt sich unversehens in ein Labyrinth. Zwar könnte das Objekt eine Pappschachtel sein, die Behandlung des Objekts mit Kontrabassbogen erfolgen, und die Mitteilung könnte die geschriebene Partitur für einen anderen Interpreten als ihm selbst sein. Das wäre ein Fall von relativer Einfachheit.
Auch die Sache mit dem Telefonbuch, das mit Schlagzeugstöcken gespielt wird, und durch schlichtes, die Tonhöhen variierendes Umblättern zum Melodieinstrument wird, bietet noch einen letzten Halt in der Symmetrie, mit der das Gebrauchsobjekt zum Klangobjekt wird. Was mir aber am Rätselhaftesten erscheint, ist, wie er es anstellt, dass von einem gewohnten Orchesterinstrument, der besagten Violine zum Beispiel, plötzlich nichts weiter als der Gegenstand, die nackte Tatsache übrig bleibt.
Ich meine damit, dass nicht nur das Gerät „Violine“, sondern tatsächlich das Spiel darauf, ja selbst das Komponieren für Violine, seiner metaphysischen Aura beraubt wirkt, und oft nichts weiter als ein verlorenes, fröstelndes Ding übrig bleibt. Offensichtlich ist, dass Objekte, beziehungsweise die Verwandlung in und aus solchen, und der Umgang mit ihnen eine entscheidende Rolle spielen. Gewöhnliche oder ungewöhnliche Musikinstrumente, Noten, Notenpapier und das Notenschreiben selbst, - nichts bleibt von dieser Verwandlung/Distanzierung/Reduzierung verschont. Alles wird zu etwas anderem. Der Standort von welchem aus so etwas geschehen kann, muss selbst ein anderer sein. Seine Vergangenheit als Jazzschlagzeuger, weit und breit keine Akademie, keine Ausbildung zum Komponisten, kein Tonsatz: Der Hebel mit dem etwas angehoben wird, muss außerhalb des Gehebelten ansetzen. Aber ausserhalb der Akademien ist nicht der Rand der Gesellschaft. Johansson hat seinen eigenen Blickwinkel auf die Musikgeschichte: Hans Eisler und die Songs amerikanischer Filmmusicals (die späteren Jazzstandards), und überhaupt die „schlechte Musik“ - es ist damit wie mit dem Autohupen: Es ist das, was uns täglich umgibt, es ist die Mitte, das was wirklich IST. Das was WIRKLICH ist.
Sven-Åke Johanssons Musik ist grundsätzlich. - Aber was? Fremdheit und Nähe. Fremd können uns die Dinge geradeaus, frontal vor uns erscheinen (Der eingerastete Blick nach vorne flackert fast unmerklich). Nähe entsteht dann, wenn wir nichts weiter tun, als zur Seite zu blicken, um vielleicht zu bemerken, dass, was wir gesucht haben, ohnehin die ganze Zeit da war, gleich nebenan, in Reichweite.
Peter Ablinger 2000 (publiziert in Automatismus der Rotation)
Die Unterseite der Dinge - Über Sven-Åke Johansson
von Felix Klopothek
Als Bert Noglik, als freier Journalist ein Exot in seiner alten Heimat DDR, vor fünfundzwanzig Jahren in einer Reihe von Interviews europäische Jazzmusiker nach ihrem Selbstverständnis befragte*, bekam er auch diese Antwort: »Es geht nicht darum, über den eigenen Schatten zu springen, sondern – grob gesagt darum, sich selbst und die Musik ruhig einmal von unten anzuschauen.
«Mitten unter all den Avantgardisten und Free Jazzern, die Noglik damals interviewte und die von musikalischer Ekstase, der Unabhängigkeit vom amerikanischen Jazz und der Opposition zum herrschenden Musikbetrieb redeten, ragt dieses Statement heraus. Was zum Teufel heißt das? Als Musiker sich und die Dinge von unten anzuschauen? Zu Protokoll gab dies Sven-Åke Johansson und vielleicht nähert man sich seinem Werk – und damit auch dem Geheimnis dieses Statements – am besten chronologisch. Tatsächlich kann man sein musikalisch-künstlerisches Schaffen als Auffächerung einer ursprünglichen Konstellation, als permanente Zunahme ihrer Binnenkomplexität beschreiben.
1943 wurde Johansson in der kleinen schwedischen Stadt Mariestad geboren. Sehr früh nimmt die Musik, nimmt das Schlagzeugspielen einen zentralen Platz in seinem Leben ein. »Mit den Tentakeln verschiedenartige Spannungen aufzubauen, kleine Variationen einzubringen durch Verschiebungen im Spiel von Fuß rechts, Fuß links, Hand rechts, Hand links, dabei eine in sich kreisende Bewegung zu schaffen – das ist etwas Organisches, etwas aus dem Körper Sprechendes«, erklärte er Noglik. In Gesprächen betont Sven-Åke Johansson, dass ihm schlicht keine andere Wahl geblieben sei, als Musiker zu werden. Musiker, das heißt zunächst: Jazzschlagzeuger. So schnell wie möglich zieht er aus Mariestad in die nächst größere, schwedische Stadt. 1966 schließlich landet er in Paris, damals das Jazzmekka Europas: Johansson ist ein veritabler BeBop-Schlagzeuger, spielt in kleinen Clubs Session um Session. Sein Pariser Aufenthalt währt anderthalb Jahre, dann zieht es ihn nach Deutschland, wo sich gerade eine junge, radikale Szene formiert mit Musikern wie Alexander von Schlippenbach, Peter Brötzmann, Peter Kowald oder Manfred Schoof. Sie spielen bereits einen eigenständigen Free Jazz: Im Gegensatz zum amerikanischen, durchaus traditionsbeflissenen freien Jazz bedienen sich »die Europäer« auch bei der neuen Musik, adaptieren die Materialzertrümmerungsorgien des Fluxus musikalisch.
Auf Johansson muss das wie ein Katalysator gewirkt haben. Er folgt dem Ruf dieser Musik, trommelt bald in den Gruppen von Schoof und Brötzmann, als hätte er niemals andere Musik gespielt, und lebt 1967 und 1968 in Wuppertal und Köln, den Epizentren der freien Improvisation in Westdeutschland. Er kommt aber nicht als Novize des Free Jazz ins Rheinland, erinnert er sich rückblickend. Schon viel früher, an Theatern in der schwedischen Provinz, hat er mit kleinen Ensembles an der freien Form gearbeitet. Die ursprüngliche Konstellation seiner Ästhetik ist die Improvisation, das Vertrauen in den ersten Entwurf, die Absicht, mit dem ersten Gedanken, den man hat, weiter zu arbeiten. Das ist der Ausgangspunkt, der ihm ungeahnte Freiheiten ermöglicht – so wird er das Schlagzeugspiel temporär aufgeben, Stücke fürs Musiktheater schreiben oder beginnen zu malen und zu zeichnen, was mittlerweile zu einigen Einzelausstellungen samt Katalogen geführt hat. Johansson probiert aus und setzt um – sein Werk ist enorm vielfältig, aber nicht beliebig, im Gegenteil, für sich genommen wirken die Werke bisweilen übertrieben streng: einzig einer Idee verpflichtet, die konsequent durchdekliniert wird. Das drückt sich schon in Plattentiteln aus, die von Konzepten, Serialisierungen und Programmen reden. Einige Beispiele aus den letzten Jahren sind: Versuch der Rekonstruktion einer vergangenen Zeit (1989, Cool-Jazz); Sechs kleine Stücke für Quintett (Free Jazz, 1999); Barcelona Serie I-XI (1999, Geräuschimprovisationen); Kalte Welle 102 – 13 Fragmente (Geräuschimprovisationen, 2007)
Johansson löst nach den wilden Jahren in Wuppertal und Köln den Improvisationsbegriff vom Free Jazz (und vom Schlagzeug) und wendet ihn nahezu universell auf andere Musiken und Techniken an. Er jamt Anfang der 70er Jahre in Berlin, wo er heute noch lebt, mit Tangerine Dream, spielt auf einem Schaumstoffschlagzeug oder auf Pappkartons, entwickelt einen eigentümlichen Sprechgesang, entdeckt das Akkordeon. Bei einer frühen musikalisch-gestischen Aktion (1967) werden Ausgaben des Springer-Blattes BZ nach einer Spielanweisung in ein Upright-Piano gestopft, bis es unspielbar ist. Dann werden die Zeitungen angezündet, schließlich fängt auch das Piano Feuer. Auch seine kompositorische Auseinandersetzung mit der neuen Musik (verstärkt seit den 90er Jahren) steht in dieser Reihe. Vielleicht kann man sie sogar als den Schluss- und Höhepunkt seines musikalischen Schaffens interpretieren. Sie speist sich aus der Erweiterung seines Instrumentariums: Ging es im Radikalismus der frühen 70er Jahre um eine Veralltäglichung oder auch Humanisierung der neuen Musik (Musik für Nichtmusiker, Musik zum Lesen etc. pp.), so dehnt Johansson dieses Prinzip, die Grenze von »Kunst« und »Leben« zu überschreiten, auf die Dingwelt aus. Er hat eine Trilogie für Windräder konzipiert, wies Musiker an, nach rhythmisch-dynamischen Parametern Feuerlöscher zu entleeren oder schrieb ein Konzert für Autohupen. Gewisse Strukturprinzipien aus der freien Improvisation hat er dabei in diese Kompositionskonzepte überführt. Das freie rhythmische Pulsieren seines Free Jazz entdeckt er wieder in den Schwingungen von Traktorenmotoren. »Die Dinge von unten anschauen«, ist die ihm eigene Form der Reflexion. Normalerweise reflektiert man über etwas. Johansson verzichtet auf die überlegene Geste des Außenstehenden, und begibt sich lieber unter die Dinge – und so mitten hinein in die Auseinandersetzung, die vor allem eine Suche nach überraschenden Zusammenhängen und Verbindungen ist. Sie ergeben sich jeweils aus sehr stilisierten Voraussetzungen: Auf einer seiner CDs Hudson Riv interpretiert er als Sänger, oder besser: Nicht-Sänger, Jazzstandards, Musicalsongs und Liebeslieder wie, You and the night, and the music, Old Devil Moon, I should care oder Autumn in New York: »Glittering crowds and shimmering clouds / In canyons of steel« heißt es da. Aufgenommen ist die CD im November 2001 – zu einer Zeit also, als es für amerikanische Radiostationen unschicklich war, Autumn in New York zu spielen. Johansson spielt den Song in seiner ganzen Pracht. Ironie, Trauer und die fast schon trotzige Selbstbehauptung, dass ein Song in erster Linie ein Song ist – und eben kein frivoles Statement – verschränken sich hier. Johansson ist der Meister der Spontanreflexion, weil er deutlich macht, dass sie keine Creatio ex nihilo ist, sondern ihrerseits auf einer Geschichte fußt.
Felix Klopotek 2009 (*Bert Noglik, Jazzwerkstatt international, Verlag Neue Musik: Berlin 1981)
Der Klang der Zeit - Zur Musik von Sven-Åke Johansson
von Sabine Sanjo
Ausdruckswerte jenseits der Subjektivität
Inzwischen verfügt Johansson nicht nur souverän über das ganze Spektrum der unterschiedlichsten Klangintensitäten und - Qualitäten, längst hat er auch ein Gespür für die Ausdrucksqualitäten der Klänge entwickelt, die er erzeugt. Seine Musikalisierung der Alltagswelt hat bisweilen systematischen Charakter. Dies hält ihn aber nicht davon ab, auch seine eigenen Vorlieben und Präferenzen zu verfolgen und zum Ausdruck zu bringen. Doch sein Verhältnis zu den eigenen Vorlieben ist mindestens genauso Komplex wie seine Vorstellung vom Ausdruckscharakter der Klänge. Seit langem hat er sich innerlich von der Vorstellung einer freien Entfaltung der Klänge distanziert, die Idylle einer umfassenden Poetisierung des Alltags kommt ihm trügerisch vor, statt dessen faszinieren ihn Klänge, die nur gegen Druck und Wiederstand entstehen und die diese widerstrebenden Kräfte auch hörbar werden lassen. Solche schnell abbrechenden und verstummenden Klänge stehen ihm auch für eine Zurücknahme der eigenen Subjekivität. Während die den Kartons und den Telefonbüchern abgepressten Klänge eine Ahnung von der inneren Anspannung vermittelt, die auf ihre Befreiung wartet, begreift er selbst die Zurücknahme der eigenen Subjektivität als die Form, die wirklich Freiheit bedeuten könnte.
Die Musikalisierung eines Alltagsgegenstandes besteht zunächst darin, die intressantesten Kombinationen der verschiedenen Parameter zu bestimmen, mit denen sich das Klangspektrums eines Objekts möglichst vollständig vorführen lässt. Insofern bilden neben den Klangmaterialien selbst vor allem die Techniken, sie zum Klingen zu bringen, das Thema seiner Kompositionen und Performances dar. Gerade in seinen Solo-Auftritten konzentriert sich Johansson ganz auf ein Material, um alle Aspekte und Paramater seiner Klanglichkeit zur Präsenz zu bringen. Die Struktur einer Komposition ergibt sich unmittelbar aus ihrem Material. Konstanten dieser Arbeit sind rhythmische Aspekte sowie Grundformen der perkussiven Klangerzeugung, die sich von Fall zu Fall abwandeln oder weiterentwickeln lässt. Johansson bevorzugt die weitgehende Reduktion seiner Materialien. Je sparsamer die Mittel, die er einsetzt, desto gründlicher kann er sich mit ihren Variationsmöglichkeiten befassen, desto deutlicher wird die Spannung zwischen den einzelnen Varianten, die er davor bewahrt, in der schieren Vielfalt der Phänomene unterzugehen. Musik ist für Ihn eine Form von Variantion, die kompositorische Arbeit zielt auf eine Intensivierung der Variationen, die er erzeugt.
Johansson verwendet meist überraschende und ungewöhnliche Aktionen, um alltägliche Objekte zu musikalisieren. Doch zugleich reizen gerade die ganz banalen und unauffälligen Materialien seine Phantasie. Von Anfang an verfügte er über eine sehr persönliche Technik der Präsentation, die als Inszenierung beschrieben werden kann und sehr stark mit Verfremdungseffekten arbeitet. Diese Effekte erzieht der Schlagzeuger insbesondere dadurch, dass er seine Aufmerksamkeit mit extremer Intesität auf die eigenen Tätigkeit konzentriert. Bei seinen Performances scheint er alles, was um ihn herum geschieht, zu ignorieren. Mit dieser Haltung rückt sein manchmal fast absurd wirkendes Tun auch für das Publikum ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Zuschauer wird dazu verleitet, ungewöhnliche Klangobjekte ernst zu nehmen und sich für den Klangcharakter und die Klangfarbe von Gurken, Traktoren oder Telefonbücher zu interessieren.
Der Effekt der Verfremdung und der Irritation betrifft sowohl den Umgang mit den banalen Alltagsgegenständen, die zu Objekten der Kunst erhoben werden, wie umgekehrt die Sphäre der Kunst, deren Weihe auf ganz unspektakuläre Objekte übertragen wird. Dabei ist die technische Virtuosität, die bei Telefonbüchern oder Gurken zunächst ganz fehl am Platze zu sein scheint, die aber gerade in der Musik immer noch ein wichtiges Kriterium hoher Kunst darstellt, für den Performer ein selbstverständliches Element seiner Arbeit. Genauigkeit im Timing in allen rhythmischen Belangen paart er mit einer Souveränität, die bisweilen den Eindruck der inneren Abwesenheit des Akteurs erzeugt, musikalisch aber immer fraglos bleibt.
Die Musikalisierung der Künste
In seiner künstlerischen Praxis hat sich Johansson durch überkommende Gattungsgrenzen nicht beeindrucken lassen. Wenn man bedenkt, wie lange er schon daran arbeitet, ganz alltägliche Dinge in Klangobjekte zu transformieren, kann es nicht überraschen, dass es auch vor einer Musikalisierung der bildenden Kunst, der Malerei und der Literatur nicht zurückschreckt. Doch es geht ihm nicht einfach darum zu zeigen, daß wirklich in allen Dingen Musik ist. Letztlich hält er nur konsequent an der Erforschung seiner Materiealien fest, deren ästhetisches Potential zu seiner Realisierung bisweilen eben statt Musik Sprache oder visuelle Objekte verlangt. So überrascht es nicht, das dieser Performer seine musikalische Techniken längst auch in anderen Bereichen demonstriert. Manche Klangmaterialien verarbeitet er zu Assemblagen und Bildobjekten, die so fast unbemerkt die Grenze zur bildenden Kunst überschreiten. Sobald seine Performance sprachliche und lautpoetische Momente mit einbeziehen, berühren sie Bereiche der Theaters und der Dichtung.
Unter den zahlreichen Büchern des Schweden sind Textbände ebenso wie Bildbände. In seinen Texten operiert er mit der Sprache jenseits fest gefügter syntaktischer und semantischer Zusammenhänge. Gerade die gezielten Unschärfen und Abweichungen von der regulären Verwendung der sprachlichen Komponenten erzeugt eine Intensivierung des sprachlichen Potentials. Meist meint man zu ahnen, wovon die Rede ist, bis der Satz spätenstens an seinem Ende eine völlig unerwartete Wendung erhält. Auf diese Weise entstehen Bilder von fantastischer Farbigkeit. Zu den Bildbänden zählt auch der ganz in Grün gehaltene Band Gurken mit Zeichnungen verschiedener gurkenförmiger Objekte, denen ein Verzeichnis beigefügt ist, in dem sich Titel wie "siebenbürger salzgurke" "belgische schlangengurke", "polnische landgurke" oder "bielefelder römergurke" finden. Auch dieses Buch beruht auf der unermüdlichen Arbeit des Registrierens und der Repertoirebildung mit ihrem typischen, bisweilen fast zwanghaft-systematischen Zug, der an die in Museen zur Schau gestellte Sucht der Sammler erinnert.
Sabine Sanio (Positionen Nr. 28) 1996
Shotgun Wedding
von Diedrich Diedrichsen
Mayo Thompson with Sven-Åke Johansson Quintett
Bei diesem Projekt geht es nicht einfach um die Idee, Jazz-Musiker Rock- oder Pop-Kompositionen spielen zu lassen, also etwas, was zwischen Gabor Szabo und The Thing schon so viele Ergebnisse unterschiedlichster Qualität hervorgebracht hat, dass man mit dem Studium der Ursachen dieser Unterschiedlichkeit genug zu tun hätte. Als Albert Oehlen die Idee hatte, die Gruppe von Sven Ake Johansson die Musik von Mayo Thompson spielen zu lassen, dachte er an etwas Anderes. Statt der alten additiven Idee der Fusion oder der synthetischen einer chemischen Reaktion war es ihm wohl eher um das Freilegen und Kenntlichmachen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu tun - mit wechselseitigen Mitteln des Fremdwerdenlassens und des Vertrautmachens. Denn nur so bekommt man einen Zugriff, der sich nicht in rein musikalischen oder musikantischen Interpretationen eines gegebenen Materials erschöpft, sondern vielmehr dessen implizite ästhetische Grundannahmen ausspricht, die man eben immer dann am deutlichsten sieht oder hört, wenn unterschiedliche Leute ähnliches oder auf einer bestimmten Ebene identisches Material gemeinsam bearbeiten.
Oehlen wählte bestimmte Kompositionen Thompsons (z.T. gemeinsam mit seinen Mitstreitern aus den frühen Tagen der Red Crayola gemeinsam geschrieben) aus, an denen eine spezifische unorthodoxe Behandlung der melodischen, themenkonstruierenden oder -abbauenden Seite deutlich wurde, für deren Eigentümlichkeit er eine mögliche Sensibilität in den Arrangements und Kompositionen des ansonsten in einem ganz anderen Kontext wirkenden Quintett von Johansson erkannte. Doch statt diese aus sehr unterschiedlichen Phasen von Thompons Werk zusammengestellten Stücke einfach von Johansson und Band mit eigenen Arrangements versehen neu einspielen zu lassen, sollte Thompson auch dazu singen. Was dieser tat, im Ergebnis dann aber doch feststellte, dass in diesem musikalischen Kontext nicht eine Solo-Platte von ihm entstehen konnte, sondern nur eine „Covers Red Crayola“, deren Interpret-Komponist-Verhältnis allerdings dadurch reizvoll kompliziert wurde, dass der Komponist nun auch in der exponierten Rolle des Sängers auftritt.
So entsteht eine Reihe von Effekten nicht nur nacheinander, sondern auch gleichzeitig. Die Red-Crayola-Stücke werden von ihrem ursprünglich ästhetisch prägenden Text-Musik-Verhältnis getrennt. Sie hören sich nicht mehr an, als seien sie im Zusammenhang mit einem Text geschrieben worden. Im nächsten Schritt kehrt aber dieser Text wieder zurück, nun als eine Art Kommentar, als zusätzliche lyrische Ebene, ähnlich einem Stück wie „Non-Cognitive Aspects of the City“ von Joseph Jarman. Doch vor dieser Rückkehr einer nun freigestellten Semantik musste das gestisch sich gegen jazzige Spielweisen im Original scheinbar sperrende Material von den Musikern des Quintetts - appropriiert werden. Ostinato-Figuren, Riffs, aber auch Phasen psychedelischer Unbestimmtheit, denen man die Fremdheit gegenüber dem Jazz-Idiom aus unterschiedlichen Gründen anhört, werden ungerührt als kompositorische Vorlage angenommen. Diese Vorlagen sind aber – Pop-Musik-typisch – auf musikalischer Ebene weit eklektischer als die meisten Jazz-Spielweisen es zulassen würden, nämlich entweder viel bestimmter und formelhafter als eine, vor allem von der Linie und dem Schwung her gedachte Musik sein kann, oder viel unbestimmter und freier.
All dies hört man natürlich in der Pop-Musik nicht, weil ihr vielfältiges Verbundensein sowohl mit geronnenen, wie mit frisch gestifteten und schließlich vom Text (und vielfältigen Bildquellen) vermittelten Semantiken ganz andere Zusammenhänge bildet. Dies wiederum hat aber gerade Thompson als Musiker wie als Songwriter immer wieder thematisiert. Ein Mittel war dabei das Nebeneinander von klassischen, als Songstruktur nahe liegenden Mitteln mit solchen, die es jeder sprachlich konstituierten Semantik äußerst schwer machen würden, von songhaft narrativen und plötzlichen und unterbrechenden. Diese in Thompsons Werk also immer schon vorhandene Reflexionsstufe kann so zum Anlass genommen werden, die schon vorhandene Unterschiedlichkeiten der Ebenen nun in der klanglich konzeptuell eher nach Einheitlichkeit strebenden Formenwelt von Jazz und jazzverwandter Musik zu adressieren.
Aber nicht nur dieser oft überraschende, komische, spannende, freiwillige wie erzwungene Sprung oder Sturz jazzmäßigen Spielens ins Konzeptualistische wäre eine Beschreibung für die kulturelle und ästhetische Spannweite, die sich hier entfaltet. Betrachtet man die Protagonisten, Thompson und Johansson aus einem anderen Blickwinkel, findet man nicht nur bei beiden eine Reihe von Projekten, die sich ähnlichen Fragen stellen, sondern auch ihre Unterschiede kann man sich dann noch einmal anders beschreiben, wenn man sie in Beziehung zur Bildenden Kunst setzt. Johansson ist, vor allem als Komponist und Regisseur großformatiger Musikaktionen oft im Zusammenhang mit der Tradition der Fluxus-Bewegung interpretiert worden, Thompson hingegen, der lange mit der historisch der Concept Art zuzurechenden Künstlergruppe Art & Language zusammengearbeitet hat, als Musiker wie als Autor und Beteiligter künstlerischer Arbeiten wäre, bliebe man also bei diesen Kategorien, der anderen großen Avantgarde der 60er Jahre zuzuordnen, dem Konzeptualismus.
Beide haben immer wieder Berührungspunkte gehabt und beide sind auch ebenso oft an diametral entgegengesetzten Position gelandet, was aber ganz selten passiert ist, für Fluxus und Konzeptualismus ebenso wenig wie für Rock und Jazz, ist die Spiegelung der impliziten Regeln des einen Genres oder Mediums in den Gesetzen des anderen. Dies aber kann man hier erleben.
Diedrich Diedrichsen 2009 (liner notes yeb-7708 2)